10 Fragen an Gastdirigent Elias Grandy
1. Lieber Herr Grandy, das Motto des diesjährigen Brahms-Festivals lautet »Dialoge«. Worauf kommt es für Sie im Dialog mit einem Orchester an?
Ein Dialog lebt von der Wechselwirkung gleichberechtigter Partner. Als Dirigent ist das Zuhören und Reagieren entscheidend: Impulse, die man setzt, ein Klang, der zurückkommt, mit dem man auf unterschiedliche Art und Weise weiterarbeitet. Hier beginnt das eigentliche Musikmachen, das viel mit Austausch und mit einer inneren Offenheit füreinander zu tun hat. Dabei könnte mir der verbale Dialog nur ein Hilfsmittel sein, um den nonverbalen Dialog von potentiellen Missverständnissen zu bereinigen. Letzterer ist für mich ausschlaggebend, weil sich das, was sich nicht genau messen lässt, sehr genau erfühlen lässt. Und wo es ein sehr klares Gefühl auf beiden Seiten gibt, da kommt ein wirklicher Dialog zustande.
2. Wie bereiten Sie sich auf den Austausch mit einer Komposition vor?
Es beginnt damit, dass ich die Partitur aufschlage und mir einen Überblick verschaffe. Die ersten Fragen sind: Wie ist die große Form, die Struktur? Dann geht es immer weiter in das Innenleben oder was man gemeinhin auch als Sprache bezeichnet. Es geht darum, die Sprache zu verstehen, die ein Komponist oder eine Komponistin spricht. Es geht darum, letztlich ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche Gestik, welche Emotionalität, welcher Inhalt in den Noten niedergelegt wurde. Und es geht darum, hinter die Noten zu blicken, weil sie nur ein Hilfsmittel sind. Es ist, wie einen Brief zu lesen. Wenn Sie ein Schreiben von einer Person erhalten, die Sie nicht gut kennen und damit auch nicht ihre Sprache und ihren Duktus, dann gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die Worte in den Sätzen zu betonen. Ist das Wort »nicht« oder das Wort »vielleicht« in diesem Satz das Entscheidende? Je vertrauter einem die Sprache eines Komponisten oder einer Komponistin wird, desto leichter fällt es, ein Gefühl dafür zu haben, wie ein Satz gemeint ist.
3. Kann es überhaupt einen Dialog mit der Musik geben? Eine Partitur ist doch unveränderlich.
Ich glaube schon, dass es einen Dialog gibt. Man spielt im Kopf durch, wie sich die Musik klanglich ausdrücken könnte. Phrasen oder Strukturen antworten auf unterschiedliche Art und Weise. Aber nicht alles ist in der Partitur festgelegt. Das kann es auch gar nicht sein, weil die Noten ein Zwischenmedium sind. Daher arbeiten wir Musikerinnen und Musiker letztendlich auch immer mit energetischen Zusammenhängen. Musik existiert nur im Moment. Und einmal angenommen, es stünde eine Originalaufnahme von Brahms als Referenz zur Verfügung, so wäre auch sie nur eine Momentaufnahme und hätte nichts Allgemeingültiges.
4. Könnte man Sie als eine Art Medium bezeichnen?
Medium trifft es schon recht gut. Das englische Wort »conductor«, im physikalischen Sinne, trifft diesen Aspekt von Medium noch mehr: Ein Zwischenglied zu sein, eine Brücke zu schaffen. Ich glaube, dass das vor allem unsere Aufgabe ist, und dass Interpretation in dem Sinne eigentlich nur als Nebenprodukt entsteht.
5. Ist es wichtig zu wissen, dass Brahms sich damit schwergetan hat, eine Sinfonie zu schreiben? Interpretiert man die Musik dann anders?
Ja, und nein. Einerseits ist es natürlich wichtig, aber andererseits glaube ich, dass die großen Werke letztlich auch über ihre Schöpfer hinausweisen. Wenn wir beispielsweise an Brahms’ Erste Sinfonie denken, können wir das ganze Verhältnis zu Beethoven oder eben den Kampf mit der Sinfonie einbeziehen. Brahms hat rund 15 Jahre an seiner Ersten gearbeitet. Das spielt natürlich eine wichtige Rolle. Auch das Verhältnis zu Clara Schumann in all den Schattierungen, die diese Beziehung über ein ganzes Leben hatte, ist nicht unbedeutend. Es geht dann um Liebe in der ganzen Größe, die sie für uns als Lebensimpuls bedeutet. So sind die Komponisten und ihre Lebenswelten sehr wichtig für ein tieferes Verständnis und gleichzeitig auch wieder unwichtig, weil die Themen, die behandelt werden, über das Individuelle hinausweisen.
6. Wenn Sie mit Lili Boulanger (1893 – 1918) ins Gespräch kommen könnten, was würden Sie sie fragen oder ihr erzählen?
Da das Thema zu Recht so aktuell ist, würde ich sie fragen, inwieweit sie als Komponistin in der damaligen Zeit an Grenzen stieß, wie sie diese überwand und welche Türen sich ihr öffneten. Was mich musikalisch interessieren würde, sind vor allem Vorgangsfragen des Schöpfens und Komponierens und wie sie ihr musikalisches Verhältnis zu Richard Wagner beschreiben würde.
7. Krzysztof Penderecki wurde bei der Uraufführung seines Concerto per corno ed orchestra mit dem Titel »Winterreise« gefragt, ob es Bezüge zu Franz Schuberts gleichnamigem Liederzyklus gibt. Er wäre im Winter einfach viel unterwegs gewesen, war seine Antwort. Was ist Ihre Einschätzung?
Auch Aussagen von Komponisten müssen in einer höheren Komplexität eingeordnet werden, als dass alles wörtlich genommen werden darf. Man könnte auch fragen: Hat Penderecki vielleicht damit kokettiert und beim Komponieren Schuberts Winterreise die ganze Zeit neben sich liegen gehabt?
8. Sie haben zunächst Violoncello studiert, waren Akademist des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und stellvertretender Solocellist an der Komischen Oper Berlin. Was hat Sie dazu bewogen, Dirigent zu werden?
Es ist eher die Frage, was mich dazu bewogen hat, Cellist zu werden. Denn ich wollte schon sehr früh Dirigent werden. Jedoch hatte ich die Vorstellung, dass man dafür, gerade im deutschen System, unglaublich gut Klavier spielen können müsse. Deswegen bin ich dieser Aufnahmeprüfung aus dem Weg gegangen und habe Violoncello studiert. Rückblickend habe ich schon während des Studiums und darüber hinaus mit einer Klarheit auf das Ziel hingearbeitet, Dirigent zu werden. Aber ich musste von etwas leben, und so war es naheliegend, zuerst eine Stelle als Cellist im Orchester anzutreten. Heute bin ich sehr froh, dass ich die Entscheidung getroffen habe, mich ganz dem Dirigieren zu widmen.
9. Unterscheidet Sie das als Dirigenten von anderen, die nicht im Orchester mitgespielt haben? Haben Sie ein anderes Verständnis für die Musikerinnen und Musiker?
Ja, vielleicht. Was ich aber neben vielem anderen am Dirigierberuf sehr schätze, ist, dass es wirklich ein Lebensberuf ist. Die Herausforderungen sind so groß, dass es viele Jahre oder auch Jahrzehnte dauert, um zu einer Reife und Klarheit zu finden. Natürlich hilft es dabei schon, auch viel im Orchester gespielt zu haben: für die Wahrnehmung dessen, was einem Orchester angeboten werden sollte und auch für das Wissen um die Verantwortung, die damit einhergeht, Dirigent zu sein.
10. Was interessiert Sie in Ihrem weiteren Dialog mit Brahms?
Worauf ich zum Beispiel zuletzt gestoßen bin, ist, dass Brahms seine Sinfonien als Tetralogie gedacht haben könnte, eventuell auch als Antwort auf Wagners Ring; in seinem doch sehr tiefen und positiven Verhältnis zu Wagner, in dem viel Respekt und Bewunderung vorhanden war. Die beiden haben sich sicher nicht als Antipoden wahrgenommen. Sie wussten, was der andere konnte. Dem würde ich sehr gerne weiter nachspüren und nachsinnen. Denn ich finde, dass auch Brahms eine Lebensaufgabe ist.
Elias Grandy ist ein Cellist und Dirigent, geboren in München. Er studierte Violoncello, Musiktheorie und Kammermusik in Basel und München und spielte als Cellist in der Akademie des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks sowie als stellvertretender Solocellist an der Komischen Oper Berlin. Später absolvierte er ein Studium des Dirigierens an der Musikhochschule Berlin "Hanns Eisler" und wurde 1. Kapellmeister am Staatstheater Darmstadt. Er gewann den 2. Preis beim Internationalen Solti-Wettbewerb in Frankfurt und wurde zur Spielzeit 2015/16 zum Generalmusikdirektor des Theaters und Orchesters Heidelberg berufen. Darüber hinaus war er als Gastdirigent unter anderem beim HR-Symphonieorchester, Yomiuri Nippon Symphony Orchestra Tokyo, Minnesota Opera, Orchestre Philharmonique de Luxembourg, Svetlanov Orchester Moskau und der Oper Frankfurt tätig.
Musik- und Kongresshalle (MuK)
Willy-Brandt-Allee 10
23552 Lübeck
www.muk.de
Sinfoniekonzert in der MuK
15 / 20 Euro (ermäßigt 9 / 13 Euro)
Alle Preise verstehen sich inklusive aller Gebühren. 10% Ermäßigung für Inhaber der NDR Kultur Karte an der Tages- bzw. Abendkasse. Karten bei allen Vorverkaufsstellen des Lübeck-Tickets und online über www.luebeck-ticket.de.
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